BR-Kommentar: Das „Flüchtlingsheim“ in der Bergidylle

BR-Kommentar: Das „Flüchtlingsheim“ in der Bergidylle

Audio-Link: BR2-Kommentar vom 22.8.2020

Das Leben erteilt immer noch die besten Lektionen. Sogar im Urlaub. Letzte Woche: PC ausstellen und ab nach Tirol. In die Bilderbuchlandschaft des Wilden Kaisers. Saftige grüne Wiesen. Grandiose Aussichten. Wunderschöne Berggipfel. Leckeres Essen. Eine Woche Auszeit. Endlich.

Am dritten Tag war ich schon ziemlich entschleunigt. Ich stand im Tal vor einem großen Wegweiser. Wohin will ich denn heute: zur Burgeralm, mit Bewirtung?  Oder zur „Forsthütte“? Alles klang urtümelig einladend. Nur einer von den elf Wegweisern wirkte merkwürdig: „Flüchtlingsheim Bürglkopf“.

Meine Neugier war geweckt. Die Straße führt in den Wald, ziemlich steil hoch. Kilometer weit. Manchmal gab eine Lichtung den Blick ins sonnendurchströmte Tal frei. Nach einer Viertelstunde Gekurve endet der Weg auf einer Anhöhe. Rechts eine eingezäunte Spielfläche. Zwei junge Schwarze Männer spielten Ball. Vor mir ein großes weißes Haus. Zwei Menschen standen in gelben Sicherheitswesten davor, als sie mich sahen, wurden sie sichtlich nervös. Oft scheint hier kein Auto herzukommen. Schon gar nicht Touristen, hier oben gibt’s schließlich keine Jausenstation. Ein Mann kam schnellen Schrittes auf mich zu. In dieser Einsamkeit Ärger? Nein danke. Ich wendete und fuhr den Waldkurvenweg wieder runter. Ein kurzer Abstecher der besonderen Art.

Was hat es nur auf sich mit diesem „Flüchtlingsheim“ mitten in der idyllischen Bergwelt?

Das Erlebnis ließ mich den ganzen Tag nicht los. Zuhause im Hotelzimmer googelte ich munter drauf los. Und fand Erschreckendes: Mitten in der Bilderbuch-Urlaubswelt leben 73 Flüchtlinge abgeschieden auf einem Berg, 1250 Meter hoch. 10 Kilometer bis zum nächsten Ort. Während „Flüchtlingsheim“ auf dem Wegweiser noch irgendwie fürsorglich klingt, verheißt die offizielle Bezeichnung „Rückkehrberatungszentrum“ wenig Gutes. Wer hier lebt, darf offiziell nicht in Österreich bleiben, sein – oder ihr – Asylantrag wurde abgelehnt. Die Abschiebung ist nur eine Frage der Zeit. Im letzten Jahr sind einige der Bewohner aus lauter Verzweiflung in Hungerstreik getreten. Der evangelische Tiroler Superintendent forderte die Schließung des menschenunwürdigen abgelegenen Quartiers. Der Fieberbrunner Bürgermeister hingegen verstand die Welt nicht mehr. Abgelegenheit bedeute ja nicht, dass sie krank macht, sondern „dass man vielleicht auch Ruhe hat und von niemanden behelligt wird“.

Auch am folgenden Tag ging mir selbst beim Bad im Bergsee das Leben der Menschen dort auf dem Bürglkopf nicht aus dem  Sinn. Mein anschließender Wanderweg führte mich auch auf eine „Wildalm“. Ein launiger Tiroler verkauft hier selbstgemachten Käse von glücklichen Almkühen. In seiner Almhütte hängen einige ältere Werbeplakate für den nahegelegenen „Berggasthof Wildalpgatter“. Eines zeigt eine afrikanische Frau mit ihrem Kind, beide in schmucker Stammestracht, vermutlich Angehörige eines Naturvolks in der Sahara-Region. „Vielleicht kommen wir auch“ steht als Werbespruch daneben.

Bis heute bin ich aus dem Staunen nicht rausgekommen: Da stellen sich ihre- Berge-liebende Menschen vor, afrikanische Ureinwohnerinnen würden gerne Urlaub in den Alpen machen!? Mehr noch: Sie schätzen sich selbst so ein, dass sie diese Menschen dann auch gastfreundlich begrüßen würden! Und in nur 300 Meter Luftlinie entfernt leben Afrikaner zwangsweise isoliert im tiefen Wald, viele tragen traumatisierende Fluchtgeschichten in ihrer Seele, und warten auf ihre Abschiebung. Die Geflüchteten haben so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt. Nur ab und zu kommen Rechtsberater der Diakonie aus dem zwei Stunden entfernten Innsbruck und versuchen, den Menschen ein wenig Hoffnung zu geben.

Auch über etwas anderes staune ich noch immer: Über meine Illusion, dass das ginge: Sich im Urlaub vollends aus der Wirklichkeit heraus zu katapultieren. Als würde das Leid der Welt auch Urlaub machen, so wie ich. Als gäbe es Regionen, in denen sich die Probleme der Welt nicht widerspiegeln.

So leicht geht es, sich von der Bergkulisse etwas vormachen zu lassen.

Diese Lektion wird mich lange begleiten.